Erinnerung zwischen Imperativ und Tabu

Erinnerung zwischen Imperativ und Tabu

Organisatoren
Fachbereich 06 Erziehungswissenschaft und Sozialwissenschaften der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und Geschichtsort Villa ten Hompel, Münster
Ort
Münster
Land
Deutschland
Vom - Bis
09.02.2007 - 09.02.2007
Url der Konferenzwebsite
Von
Thomas Kleinknecht

Das Thema der „Erinnerung“ ist in letzter Zeit in den Kulturwissenschaften unübersehbar zur beherrschenden Zentralkategorie des bewussten Umgangs mit der Vergangenheitsdimension menschlichen Handelns aufgerückt. Vermutlich hat die stärker anthropologisch interessierte Ausrichtung dieser Art Memoria-Forschungen den Ansehensgewinn begünstigt, sodass heute etwa unter den – vielfach in Begriffsunion auftretenden – Stichworten „Gedächtnis“ oder „Symbolische Kommunikation“1 eine hinreichend tragfähige, gemeinsame Methodengrundlage der beteiligten Disziplinen gebildet werden konnte.

Dabei hatte es dem bis vor kurzem maßgeblichen Konzept der reflexiven Geschichtsaneignung, dem von dem emeritierten Didaktiker Karl-Ernst Jeismann (Münster) entfalteten Idealtypus des „Geschichtsbewusstseins“2, keineswegs an einer Einfügung vielfältiger historisch-politischer Bildungspraxis in strukturelle und curriculare Bezüge, gefehlt! Aber der diesem Konzept insgeheim eingeschriebene Historismus scheint mit seinem scheinbar unwiderleglichen Verstehensanspruch nicht mehr recht einlösbar. Zu stark haben sich auf dem umkämpften Feld der „Vergangenheitspolitik“3 ein Urteilswollen und der Wunsch nach gesellschaftlich verbindlicher, politischer Wertsetzung erwiesen, als dass eine Erinnerungskultur vom Typ der möglichst neutralen Vergangenheitsstudie hier noch als belangvoll aufgenommen würde. Die Erinnerungsarbeit drängt, zumal wenn sie sich dem Impuls der klassischen Aufklärung und dem „Streit der Fakultäten“ (Kant) verpflichtet weiß, viel ungestümer, als es eine immer schon prekäre Liaison von Wissenschaft und Politik je gewollt hätte, auf Stellungnahme und politische Entscheidung.

Ein eintägiges Symposium war Anfang Februar diesen Jahres im Geschichtsort der Villa ten Hompel in Münster zum akademischen Abschied des Erziehungswissenschaftlers Hasko Zimmer von der Westfälischen Wilhelms-Universität durch Kollegen, Freunde, Weggefährten und SchülerInnen ausgerichtet worden. Der Titel der Münsteraner Tagung: „Erinnerung zwischen Imperativ und Tabu“ stellte „Erinnerung“, also das Proprium erziehungswissenschaftlicher Tätigkeit, nicht von ungefähr vor eine fordernde Alternative. Dabei ist die zugespitzte Dialektik zwischen Imperativ und Tabu im Blick auf die richtungspolitischen Optionen und die Arbeitsschwerpunkte des Geehrten mehr als berechtigt (wie weiter unten noch angedeutet wird.)

Über den persönlichen Horizont hinaus sind es aber auch veränderte, durchaus objektivierbare Merkmale, die – gegenüber der herkömmlichen Erinnerungsarbeit – dieser einen neuartigen Kontext geben: Zu Beginn des 21. Jahrhunderts reicht der selbstrechtfertigende Solitärgesichtspunkt eines nationalen Debattenzusammenhangs nicht mehr aus, vielmehr gibt die Weltöffentlichkeit die moralischen Universalgesichtspunkte vor. Diesen Ansatz hatte Zimmer, zusammen mit dem damaligen Leiter des Geschichtsorts, Alfons Kenkmann, Leipzig / Münster, bereits auf einer internationalen Tagung im September 2002 in Münster erprobt, wo sie bemerkten: "Vieles deutet darauf hin, dass im Zusammenhang mit der wachsenden Bedeutung der universellen Menschenrechte [und] der durch sie angestoßenen Viktimierungsdebatte 'negative Erinnerung' zu einer globalen Norm zu werden scheint“.4 Mit anderen Worten, führt die unabweisbar gewordene, menschenrechtspolitische Dimension jeglicher Erinnerungsarbeit, die heute die erziehungswissenschaftliche Agenda anführen muss, dem öffentlichen Erinnern in erschreckender Weise die äußerst unbequemen Wahrheiten und Hypotheken der je eigenen Herkunftsgeschichte vor Augen. Das heißt im Extremfall die Erinnerung an staatliche Gewaltverbrechen bis hin zum Völkermord.5 Die – jenseits jeglicher ideologischer Blockabgrenzung6 – auf breiter Staatenfront anzutreffenden tiefen politischen Zwistigkeiten in den teilweise heftigen Erinnerungsdisputen bilden dabei fast immer eklatante Herrschaftsverwerfungen in den sich mühsam wieder formierenden Gesellschaften ab.

In kritisch resümierender und perspektivischer Absicht trugen die Referenten während des Münsteraner Februarsymposiums ihre Kurzreferate vor, die drei unterschiedlich akzentuierten Themenkreisen zugeordnet waren: (1) Die ästhetische Form der Erinnerung (Moderation: Christoph Spieker, Münster), (2) Nationale Konstellationen erinnerungspolitischer Kontroversen (Moderation: Dietrich Thrähnhardt, Münster) und (3) Erinnerungsarbeit und Menschenrechtsbildung (Moderation: Marianne Krüger-Potratz, Münster). Der derzeitige Dekan des Instituts für Erziehungswissenschaft, Münster, Bernd Zymek, nutzte die Gelegenheit, unter der Leitfrage „Was bleibt bedeutsam?“ Überlegungen über die mutmaßliche Richtung der zukünftigen Leistungsentwicklung seines Fachs nach der „realistischen Wende“ anzustellen. Damit bezog er sich darauf, dass die Rückkehr zu den pädagogischen Klassikern der Aufklärung der Profession bei Strafe der Selbsttäuschung versagt sei.

Die ästhetische Ambivalenz einer hauptsächlich symbolgestützten Vergangenheitsaneignung konnte nicht krasser, nicht dialektischer in Erscheinung treten als in dem Eingangsreferat von Alfons Kenkmann. Er veranschaulichte an einem klassischen Denkmalsbeispiel aus der Weimarer Zeit in Essen einen Fall „inszenierte(r) Erinnerung als Teil öffentlicher Traditionsbildung“. Die baulichen Restbefunde einer rotundenähnlichen Erinnerungsstätte unklarer Herkunft sollten durch explizite Restaurationsanstrengungen seitens einzelner städtischer pressure groups eine größere Eindeutigkeit zeigen und damit neue semantische Aktualisierungsmöglichkeiten der städtischen Geschichtserzählung erhalten. Doch frappiert den nachgehenden Betrachter heute gerade die politisch völlig konträre Inwertsetzung des Denkmals durch die Einwohner. Das lässt auf eine bipolare, geschlossene Erinnerungswelt schließen, die es „vor Ort“, das heißt in einem Teil der Stadt, wohl gegeben hat und die der Historiker allererst lesen lernen muss. Dieter Stolz (Göttingen) genoss als Vertreter des Steidl-Verlags, der alle Werke von Günter Grass verlegt, selber noch die unbegrenzten Möglichkeiten der persönlichen poetischen Erinnerungsgenese. Sie erlaubten es ihm, sich über alle anderen Standpunkte zu erheben, die in der aktuellen heftigen Diskussion um die SS-Affiliation des jungen Grass eingenommen worden sind. In literarischem Stil entwarf Stolz entlang der seinerzeit jüngsten Publikation des Nobelpreisträgers „Beim Häuten der Zwiebel“ (1. Aufl., 2006) al fresco die Dimensionen der intensiven Selbstbefragung des auktorialen Ichs. Diese Erinnerungsattitüde distanziert sich von der medialen Historisierungsflut, setzt, so scheint es, ganz auf den ästhetischen Zugewinn des kunstvoll erzählten biografischen Eigensinns und verachtet jeglichen Versuch einer wissenschaftlichen „widerspruchsfreien Totalität“ (Stolz).

In der nächsten Sektion skizzierte Ruth Fuchs (Hamburger Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien) den vorläufigen Status der Vergangenheitspolitik in Uruguay als noch „im Schatten der Amnesie“ stehend. Die Erziehungswissenschaftlerin Helma Lutz (Amsterdam / Münster) wandte sich der jüngeren öffentlichen Annäherung an die problematische Kolonialvergangenheit der Niederlande zu. Die ehemals kolonisierende Gesellschaft ist zwischenzeitlich längst zur Einwanderungsgesellschaft mutiert. Der Komplexität der sich damit einstellenden unterschiedlichen, teilweise einander widerstreitenden Geschichtserzählungen ist wohl nur einigermaßen beizukommen, wenn man die mitunter recht stereotypen Gedenkrituale in ihrer Funktion als „Deckerinnerung“7 begreift. Denn diese suggeriert die gern wahrgenommene Möglichkeit, den Opfermythos einer außer-nationalen Fremdbestimmung niederländischer Gebiete durch Besatzer als gängigen Gedächtnishabitus zu pflegen, hingegen negative Seiten der eigenen Geschichte gar nicht erst zu thematisieren.

Eine würdige (und für manche Anwesende auch ein wenig emotive) Klimax des akademischen Abschiedstages erfuhr die Sitzung in der letzten Sektion über Erinnerungsarbeit und Menschenrechtsbildung. Rainer Huhle (Nürnberg) ging zurück auf die Gründerzeit der Menschenrechte in den späten 1940er-Jahren der Nachkriegszeit und widmete sich den damals einsetzenden Bemühungen, auf internationaler Ebene die Menschenrechtserziehung auf den Weg zu bringen. Derartige Initiativen fußten indes auf eingehenden Analysen kollektiver Phänomene. Hermann Broch sprach in seiner in den 1940er-Jahren entstandenen, aber sehr wohl individualistisch verstandenen Theorie, von der „Massenwahntheorie“8. Um den „Massenwahn“ einzudämmen, müsse man, das bildete sich bald als Konsens der Väter dieser Gedanken heraus, die allgemeine Ignoranz der einfachen Leute als Produkt bestehender Sozialsysteme begreifen und auf letztere entsprechend einwirken. Claudia Lohrenscheit (Deutsches Institut für Menschenrechte, Berlin) plädierte mit Verve dafür, dass man angesichts der tatsächlichen Kluft zwischen der bloßen Legalform, in der das Menschenrecht auf Bildung und Schutz vor Diskriminierung in zahlreichen Gesetzesartikeln festgeschrieben worden ist, also zwischen dem universellen Anspruch und dessen tatsächlicher Umsetzung, doch nicht die erreichbaren Fortschritte aus den Augen verlieren dürfe. Die verbrieften Chancen, besonders natürlich für Frauen, sind reell da und sie sind durchaus für die sukzessive Erweiterung der gesellschaftlichen Teilhabe qua Bildungserwerb zu nutzen. Hasko Zimmer, der Schlussredner des Symposiums, hat seit geraumer Zeit einen Vorschlag seiner Kollegen aufgreifend die kritische „Erinnerungsarbeit zwischen Identitätspolitik und Menschenrechtsbildung“ verortet. Die rituellen Formen des Gedenkens seien längst an die Grenzen ihrer Eignung für eine nachhaltige gesellschaftliche Selbstaufklärung der Vergangenheit gestoßen und erhielten wohl am ehesten mit Blick auf die universellen Menschenrechte eine befreiende Perspektive.

Zumal die letzten Beiträge waren geeignet, ein stückweit die jüngere akademische Bildungsgeschichte des westdeutschen Teilstaats nach zu verfolgen. Damit konnte zugleich der Prozess der inneren Demokratiegründung der Bundesrepublik Deutschland spätestens nach den, inzwischen mehrheitlich als entscheidenden Umbruch gedeuteten späten 1960er-Jahren, nachvollzogen werden. Denn die von Adorno 1966 formulierten und für unüberbietbar gehaltenen Forderungen an eine „Erziehung nach Auschwitz“ markierten für diese junge Forscherkohorte den Sinnhorizont jeglicher dialektischen Weltaneignung.

Und wenngleich eine Mehrzahl von geistigen Strömungen, wie jüngere Darstellungen belegen, die „Philosophie der Bürgerlichkeit“9 der westdeutschen Nachkriegsgesellschaft etabliert haben, wie sie beispielsweise seit den 1950er-Jahren im „Collegium philosophicum“ um den Neo-Hegelianer Joachim Ritter (1903-1974) in Münster ausgebildet worden ist, so ist doch der bestimmende Anteil, den die „Frankfurter Schule“ in Gestalt des Instituts für Sozialforschung10 an der intellektuellen Gründungsleistung gehabt hat, nicht von der Hand zu weisen. Das Münsteraner Symposium konnte somit dazu beigetragen, die Bedeutung dieses spezifischen, nicht bloß moralischen, sondern entschieden emanzipativen Erziehungsimpulses für das historische Gedächtnis der deutschen Erziehungswissenschaft zu reflektieren.

Anmerkungen:
1 Vgl. etwa den Sonderforschungsbereich 496 an der Westf. Wilhelms-Universität Münster: „Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme“.
2 Leicht zugänglich sind Jeismanns Schriften in: Jeismann, Karl-Ernst, Geschichte und Bildung. Beiträge zur Geschichtsdidaktik und zur Historischen Bildungsforschung, hrsg. u. eingel. von Wolfgang Jacobmeyer und Bernd Schönemann, Paderborn u.a. 2000.
3 Neben der inzwischen magistralen Studie von Norbert Frei (1997) sei verwiesen auf das Themenheft der Zeitschrift „Aus Politik und Zeitgeschichte“ 42 (2006).
4 Kenkmann, Alfons; Zimmer, Hasko (Hrsg.), Nach Kriegen und Diktaturen. Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert, Essen 2006, Einleitung, S. 7. Vgl. die Besprechung des Bandes durch Cord Arendes (Heidelberg) in: Cord Arendes: Rezension zu: Kenkmann, Alfons; Zimmer, Hasko (Hrsg.): Nach Kriegen und Diktaturen. Umgang mit Vergangenheit als internationales Problem - Bilanzen und Perspektiven für das 21. Jahrhundert. Essen 2005. In: H-Soz-u-Kult, 01.06.2006, <http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2006-2-154>.
5 Siehe Radkau, Verena; Fuchs, Eduard / Lutz, Thomas (Hrsg.), Genozide und staatliche Gewaltverbrechen im 20. Jahrhundert, Wien 2004.
6 Vgl. Altrichter, Helmut (Hrsg.), GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozess Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas, München 2006.
7 Vgl. zur psychoanalytischen Herkunft des Begriffs Leiprecht, Rudolf, Erinnerungskultur in Deutschland und den Niederlanden – Hinweise für eine Erinnerungspädagogik in pluriformen Einwanderungsgesellschaften, in: Lutz, Helma; Gawarecki, Kathrin (Hrsg.), Kolonialismus und Erinnerungskultur. Die Kolonialvergangenheit im kollektiven Gedächtnis der deutschen und niederländischen Einwanderungsgesellschaft (= Niederlande-Studien, Bd. 40), Münster u.a. 2005, S. 95-110, hier S. 99 Fn. 9.
8 Broch, Hermann, Massenwahntheorie. Beiträge zu einer Psychologie der Politik, in: Ders.: Kommentierte Werkausgabe, Bd. 12, hrsg. v. Paul Michael Lützeler, Frankfurt am Main 1979.
9 Hacke, Jens, Philosophie der Bürgerlichkeit. Die liberalkonservative Begründung der Bundesrepublik (Bürgertum Neue Folge. Studien zur Zivilgesellschaft, Bd. 3), Göttingen 2006.
10 Albrecht, Clemens; Behrmann, Günter C.; Bock, Michael, Die intellektuelle Gründung der Bundesrepublik. Eine Wirkungsgeschichte der Frankfurter Schule, Frankfurt am Main 1999.


Redaktion
Veröffentlicht am